Die Sexualaufklärung bahnt sich ihren Weg durch die
Geschichte
In Ketten gelegt - Die katholische Kirche hat den Prozess der Aufklärung im Laufe der Geschichte immer wieder erschwert.
© Andreas Hartmann
Noch vor einem halben Jahrhundert war Sexualaufklärung einfach – es gab sie nicht. Denn bis in die sechziger Jahre war in Deutschland Sexualität ein Tabuthema. Heute jedoch zählen wir zu den aufgeklärtesten Nationen weltweit. Wie wir das geschafft haben - und welche Steine uns der Vatikan dabei in den Weg gelegt hat.
Die Aufklärung in den Fängen der Kirche
In jeder geschichtlichen Epoche gab es bestimmte Erwartungen und Verhaltensmuster, wie sich die Menschen im Umgang mit Sexualität verhalten sollten. Jedoch handelte es sich hierbei um keine gezielte Unterweisung von Kindern und Jugendlichen, sondern eher um Verhaltensvorschriften. Zwar wurde Sexualität immer wieder thematisiert und theoretisch ergründet, jedoch war sie nie Bestandteil der Erziehung. Schuld daran war auch die katholische Kirche, die Sexualität ausschließlich als Notwendigkeit zur Fortpflanzung sah. Was lange vergangen scheint, wurde vom Klerus teilweise sogar bis in die achtziger Jahre gepredigt. Selbst in der Ehe galt Sexualität als Sünde, wenn sie aus reiner fleischlicher Lust erfolgte. Geschlechtsverkehr vor der Heirat war für die katholische Kirche eine schlimmere Sünde als Mord. Joseph Ries beschreibt in seinem Buch „Kirche und Keuschheit“, dass nach Auffassung der Kirche der Geschlechtstrieb den Menschen zum Tier oder sogar unter das Tier herabwürdigt. Auch die bloße Vorstellung von sexuellen Praktiken war verboten. Die Kirche unterteilte die Körperteile sogar in ehrbare, weniger ehrbare und unehrbare Körperteile. Die Genitalien und die angrenzenden Bereiche waren natürlich unehrbar. Schon allein das Betrachten dieser Körperteile, selbst der eigenen, war eine Sünde, wenn es nicht aus vollkommen reiner Absicht ohne sexuelle Lust erfolgte. Daher ist es nicht verwunderlich, dass es keine Sexualaufklärung in der Kirche gab. Das Verbot des Betrachtens der Genitalien oder der Vorstellung des Geschlechtsverkehrs macht eine Aufklärung darüber äußerst schwierig. Sexualaufklärung in der Schule wurde als Gefahr gesehen, und nach dem Theologen Franz Adam Göpfert müsse „alles Schlechte der Jugend in unbekannte Ferne gerückt werden“, da das Kind sonst „unerwartet früh gefährliche Eindrücke aufnehmen kann, die […] zur Quelle der Versuchung werden können.“, wie Hardy Schilgen es in seinem Buch „Junge Helden“ schildert.
Erste Schritte
Trotzdem konnte der Fortschritt irgendwann nicht mehr aufgehalten werden. Anstoß für einen Wandel in Deutschland gab zum einen die
Einführung der Antibabypille. Auch wenn sie zunächst nur an verheiratete Frauen verschrieben und als Mittel gegen Menstruationsbeschwerden eingesetzt wurde, war dies wie ein Befreiungsschlag.
Weiterhin hat Oswalt Kolle, der auch als „Aufklärer der Nation“ gilt, durch Veröffentlichung zahlreicher Artikel, Aufklärungsserien in Illustrierten, Büchern und sonstigen Publikationen zu
Sexualität den verklemmten Umgang mit dem Thema gelockert. Der Staat reagierte schließlich und 1967 wurde der Aufklärungsfilm „Helga“ im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
(BZgA) als Lehrfilm für Eltern, Erzieher und heranwachsende Jugendliche veröffentlicht. Zwei Jahre später folgte ein „Sexualkunde-Atlas". Währenddessen wurde 1968 in der Kultusministerkonferenz
offiziell beschlossen, dass die Schule in ihrem Bildungs- und Erziehungsauftrag dazu verpflichtet ist, an der Sexualaufklärung und -erziehung ergänzend zu der Rolle der Eltern mitzuwirken.
Hierfür bekam jedes Bundesland individuelle Richtlinien hinsichtlich Klassenstufe, Unterrichtsmethoden und Themen. Die Kirche protestierte allerdings nach der Einführung des regulären
Sexualkundeunterrichts durch den Staat. Die Schule sei als Einrichtung für Aufklärung nicht geeignet, dies sei Recht und Aufgabe der Eltern – freilich in der Hoffnung, dass sie wegen deren
anerzogener Verklemmtheit ganz ausbleibt.
Die Reaktion der Kirche
Hingegen hat sich die starre Haltung bezüglich der möglichen Verhütung beim Geschlechtsverkehr etwas gelockert. In der Enzyklika Humanae Vitae nach Papst Paul VI von 1968 wurde erlaubt, dass unfruchtbare Perioden des Zyklus' in Anspruch genommen werden dürfen, um eine aus familienethischen Gründen unerwünschten Fortpflanzung entgegen zu wirken. Das galt allerdings nur für Verheiratete. Denn bezüglich außerehelichen Geschlechtsverkehrs und „künstlichen“ Verhütungsmitteln hat sich die Einstellung der Kirche nicht weiter geändert. Es sei ein Unterschied, ob man nur von den Möglichkeiten der Natur Gebrauch mache oder aber in ihren natürlichen Verlauf künstlich eingreife. Selbst AIDS sei nach wie vor kein Grund, die Verwendung von Kondomen zu rechtfertigen. Enthaltsamkeit sei die geeignete Maßnahme. Das machte Papst Benedikt XVI erst vor einigen Jahren auf seiner Afrikareise im März 2009 deutlich. Auch dessen Nachfolger Papst Franziskus hat sich vor kurzem bei seinem Besuch auf den Philippinnen in Manila wiederum auf die Humanae Vitae bezogen und bekräftig, dass die katholische Kirche weiterhin „ihre traditionelle Position zur Sexualmoral“ beibehalten wird und dass die Kinder „vor Sünde und Laster bewahrt werden [müssen], damit sie nicht auf der Straße endeten.“
Aufklärung heute durch Staat...
Gegenwärtig obliegt die Verwirklichung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes, das 1995 eingeführt wurde und so die Sexualaufklärung zur Aufgabe des Staates erklärt hat, der BZgA. Zusammen mit der Unterstützung der Länder und Vertretern von Familienberatungseinrichtungen soll sie ein Rahmenkonzept zur Sexualaufklärung erstellen. In diesem wird Sexualität als „existentielles Grundbedürfnis des Menschen“ gesehen, das „ein zentraler Bestandteil seiner Identität und Persönlichkeitsentwicklung“ ist. Um diesen Kriterien gerecht zu werden, soll Sexualerziehung nicht nur reines Wissen über biologische Vorgänge wie Zeugung und Schwangerschaft umfassen, sondern auch auf die zwischenmenschlichen Beziehungen eingehen und damit Themen wie Liebe, Freundschaft und Emotionalität ebenfalls umfassen. Das hat zum Ziel, „Menschen zu einem eigen- und partnerverantwortlichen, gesundheitsgerechten Umgang mit Sexualität“ zu befähigen.
... und Kirche
Gegen Sexualaufklärung an Schulen sei die katholische Kirche laut einem Artikel der Vatikanzeitung „Osservatore Romano“ mittlerweile nicht mehr, solange es sich dabei nicht um eine „reine Ansammlung von technischen Anleitungen zum Gebrauch von Verhütungsmitteln“ handele. Gemäß einem Vertreter der deutschen Bischofskonferenz im Bereich Glaube und Religion, Dr. Andreas Verhülsdonk, gehört nach katholischem Verständnis zur Erziehung und Bildung auch die Sexualerziehung. Auch wenn die Eltern wie in allen Erziehungsfragen die ersten Verantwortlichen für die Sexualerziehung ihrer Kinder sind, schließt das nicht aus, dass Sexualerziehung auch in der Schule erfolgt. Die Kirche befürwortet und ermutigt jedoch, dass Eltern von dem Mitspracherecht, so wie es in den staatlichen Lehrplänen gemeinhin vorgesehen ist, Gebrauch machen. In der Erklärung über Erziehung des II. Vatikanischen Konzils Gravissimum educationis (1965) heißt es weiterhin: „Nach den jeweiligen Altersstufen sollen sie (die Kinder und Jugendlichen, A.V.) durch eine positive und kluge Geschlechtserziehung unterwiesen werden.“ Hierfür unterstützt die Kirche Schulen, indem einige Organisationen den Lehrerinnen und Lehrern eigene Materialien zur Verfügung stellen und Projekte zur Sexualerziehung entwickeln, die sie zusammen mit Schulen durchführen. Auf diese Weise will die Kirche eine am christlichen Menschenbild sowie wertorientierte Sexualerziehung fördern.
Die Ängste der Eltern
Doch immer noch sorgt
Sexualaufklärung an Schulen für Diskussion. Eltern befürchten, dass ihren Kindern zu früh Themen aufgezeigt werden, mit denen sie noch nicht umgehen können und Fragen nicht nur beantwortet,
sondern auch immer weitere aufgeworfen werden. Zwar sei durch schulische Aufklärung mehr Schutz vor Gefahren wie sexuell übertragbaren Krankheiten, ungewollte frühzeitige Schwangerschaften oder
sexuellem Missbrauch gegeben. Es entwickle sich aber auch ein immer offenerer Umgang mit der Sexualität selbst. Kinder und Jugendliche würden regelrecht mit sexuellen Themen überflutet. Sie
müssen nicht lange suchen bis sie auf Bilder, Plakate oder Filme stoßen, die mit der Thematik zu tun haben und oft auch ein falsches oder sogar abschreckendes Bild von Sexualität vermitteln. Es
ist in unserer Zeit, die stark von den Medien und dem Internet geprägt wird, umso wichtiger, eine fundierte Sexualaufklärung zu betreiben, damit den Kindern Achtung vor ihrem eigenen Körper und
dem anderer vermittelt wird. Gleichzeitig soll ein verantwortungsvoller Umgang mit dem Internet gelehrt werden, damit dieses eben nicht schadet, sondern fördernd als Quelle für Wissenslücken
dienen kann. (Siehe hierzu: Aufklärung ist Neugier - Das Interview mit 61MinutenSex)
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